Ein Resümee zu zweieinhalb Jahren Ausbildungsrealität und Truppenalltag
„Combat experiences since the beginning of this century have highlighted the need to decentralize operations. And the importance of mission command will increase in the future as armed forces confront both hostile military forces and nonstate armed groups as well as criminal and terrorist organizations. […] Junior leaders must possess a bias toward action and accept necessary risks associated with leading and fighting in complex and uncertain environments against determined and adaptive enemies.“

Temporäre Befragungsstelle, hier: Arbeitsbereich Feldnachrichten- kräfte, TrpFhr 1, TrpFhr 2, Ausw + ZgFhr Bereich.

Der US-amerikanische Generalleutnant a.D. und ehemalige Nationale Sicherheitsberater H.R. McMaster schrieb diese Zeilen als Brigadegeneral in einem einleitenden Vorwort zu Eitan Shamirs Abhandlung „Transforming Command“ und auch für diesen Artikel scheinen seine Worte geeignet, um kurz und präzise die Bedeutung und Notwendigkeit des Prinzips der „Auftragstaktik“ ins Gedächtnis zu rufen.
Nach einem Jahr auf meinem Dienstposten als Offizier in einem Aufklärungsverband des Deutschen Heeres wirken sie lebendiger und greifbarer als jemals zuvor. General McMaster und Eitan Shamir schreiben von dezentralisierten Operationen, von einem hohen Grad an Flexibilität und Initiative militärischer Führer, von der Pluralität bewaffneter Konflikte und ihrer Diversität. All diese Aspekte stellen Anforderungen an den militärischen Führer und verlangen nach einem adaptiven Führungsstil, welcher sowohl den Grundsätzen herkömmlicher bewaffneter Konflikte, den Anforderungen moderner, hybrider und hoch technologisierter Kriege als auch Operationen geringer Intensität – z.B. Stabilisierungsoperationen – gerecht wird. Das Führen mit Auftrag kann diesen Anforderungen in all den eben genannten Szenarien gerecht werden.

Das ist eine zentrale Erkenntnis nach einem Jahr in der Truppe.
Diese Quintessenz möchte ich begründen: Mein Rückblick über die letzten zweieinhalb Jahre führt mich durch drei wesentliche Stationen: Zum einen durch den Offizierlehrgang Teil 3 zum Feldnachrichtenoffizier am Ausbildungszentrum Munster, durch die ersten Monate im Aufklärungsbataillon 6 in Übungsszenarien zur Landes- und Bündnisverteidigung und schließlich die Einsatzvorbereitende Ausbildung für die NATO Mission Resolute Support (RSM) in Afghanistan.


In einem frühen Stadium des Offizierlehrgangs Teil 3 wurde bereits deutlich, was es heißt, flexibel sein zu müssen – Beweglichkeit im Denken war unabdingbar. Natürlich war das keine neue Erkenntnis oder gar eine Überraschung. Diese Maxime hören jungen Menschen wahrscheinlich schon ab einem sehr frühen Zeitpunkt ihres Heranwachsens – dennoch wurde es in der Ausbildung zum Feldnachrichtenoffizier auf eine andere Art plötzlich sehr greifbar. Der kognitive Spagat bestand darin, auf der einen Seite die Grundsätze in Stabilisierungsoperationen – begleitet durch mannigfaltige Impressionen der Hörsaalfeldwebel aus Stabilisierungsoperationen wie ISAF, RSM, KFOR oder MINUSMA – zu verinnerlichen und auf der anderen Seite Hörsaal übergreifend in Übungsszenarien eines Aufklärungsverbundes in Operationen hoher Intensität als Sensor effektiv zu fungieren. Zwei Realitäten, die unterschiedlicher nicht sein können, sei es von den operationellen Zeitlinien oder den Einsatzgrundsätzen. Letztlich zeigt dieses Beispiel die Notwendigkeit eines adaptiven Führungsstils. In einem Szenario agiert man autark als Trupp im Rahmen einer Stabilisierungsoperation und verdichtet mittels Gesprächsführung mit Kontakten den Informationsbedarf einer multinationalen J2-Abteilung, im anderen ist man unmittelbar neben einem Bataillonsgefechtsstand eingesetzt und befragt Kriegsgefangene zu den Strukturen einer so genannten Battalion Tactical Group und der möglichen Absicht des Feindes.
Während sich die erste Ausbildungsstation durch einen fifty-fifty Ansatz auszeichnete, wandelte sich das Verhältnis auf dem ersten Dienstposten im Aufklärungsbataillon zunächst gänzlich zu Gunsten der Landes- und Bündnisverteidigung. Der Truppenalltag in einer leichten Aufklärungskompanie, eingebunden in den Sensormix des Aufklärungsverbunds, sah zu hundert Prozent Übungsszenarien mit hohem operativem Zeitdruck oder auch Aufklärung unter den Bedingungen von Gefechtshandlungen hoher Intensität gegen einen kampfkräftigen Gegner vor. Die Feldnachrichtenkräfte wurden nun nicht mehr in Trupp-Stärke eingesetzt, sondern als Zug geführt. Unser Auftrag: der Aufbau und das Betreiben einer temporären Befragungsstelle . Im Gegensatz zum Ausbildungszentrum stand hier nun ein ganzes Bataillon zur Verfügung, um dieses Szenario so realistisch wie möglich abzubilden.

So verlegten wir im Gefechtsmarsch des Bataillons über 600 Kilometer und bezogen danach einen Verfügungsraum, um dort unseren Befragungsauftrag wahrnehmen zu können. In Ergänzung zu diesem Hauptauftrag wurde der Feldnachrichtenzug in einem späteren Übungsvorhaben in die Lage gestellt, sich versprengt hinter den feindlichen Linien zu den eigenen Truppen durchzuschlagen. Es war eine klassische Durchschlageübung als Abschluss der Übungsreihe zum Thema Landes- und Bündnisverteidigung. Dieser zweite Abschnitt in seiner Gesamtheit erforderte ein erneutes striktes Umdenken – zum Beispiel waren nicht mehr Show of Force im Einsatzraum, sondern Geräuschdisziplin und Tarnen und Täuschen handlungsbestimmende Devisen. Ein erneutes Umdenken findet nun im dritten Abschnitt statt: Aufgrund des bevorstehenden Einsatzes im Rahmen der NATO Mission Resolute Support in Afghanistan wird der Schwerpunkt zu hundert Prozent auf die Einsatzvorbereitung in einer Stabilisierungsoperation verlagert. Die Übungsgliederung Rot wird wieder beiseitegelegt und auch die Tarnnetz-bedeckten Wölfe und „Zwo-Tonner“ durch geschützte Fahrzeuge wie den ENOK ersetzt. Der Hauptfeind sind keine Battalion Tactical Groups mehr, sondern kleine Gruppen von Insurgenten auf einem ausschließlich asymmetrischen Gefechtsfeld. Neben einer Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen und historischen Feinheiten eines komplett fremden Kulturraumes, gilt es, die NATO Standard Operating Procedures mit den deutschen infanteristischen Grundsätzen zu harmonisieren und zu verinnerlichen. Erneut wird wieder die J2-Abteilung zu dem Hauptadressaten unserer Aufklärungsergebnisse.

Dieser kleine Einblick in ein Résumé „Zweieinhalb Jahre Ausbildung und Truppenalltag“ zeigt vor allem Eines: Es gibt kein Entweder-Oder! In einer heutigen Welt mit hochkomplexen Einsatzszenarien, die sich durch hybride Kriegführung oder der zeitgleichen Anwesenheit von symmetrischen und asymmetrischen Merkmalen definieren, ist geistige Beweglichkeit im militärischen Denken und Führen unabdingbar. Dementsprechend schlüssig erscheint mir auch der Rückblick auf die beschriebenen drei Abschnitte, in denen der Schwerpunkt zwischen Stabilisierungsoperation und Landes- und Bündnisverteidigung immer wieder verlagert wurde und sich gegenseitig ablöste. Dies verdeutlicht den notwendigen Trend der „decentralized operations“ und das unbedingte Festhalten am deutschen Konzept der Auftragstaktik. Ich als junger Offizier stehe immer vor der Herausforderung im Denken flexibel zu sein, auf komplexe Einsatzszenarien und anpassungsfähige Feinde adäquat zu reagieren und dabei das Vertrauen in meine Vorgesetzten und meine Untergebenen niemals zu verlieren.


Die beschriebenen komplexen Lagen erfordern auf jeder Führungsebene Lagebeurteilung, sie erfordern auf jeder Führungsebene Mitdenken, geistige Freiheit und Handlungsspielräume, ohne die eine effiziente Auftragserfüllung nach dem Führungsverständnis der Bundeswehr gar nicht möglich ist.
Führen in diesem Sinne heißt damit nicht nur zu befehlen und Kontrolle auszuüben, sondern auch Kontrolle und Handlungsfreiheit in fähige Hände zu übergeben – im Vertrauen darauf, dass der Untergebene dies in sicherer Anwendung der Führungsverfahren und im Sinne der Auftragserfüllung nutzt – und zugleich die Verantwortung für den eigenen Verantwortungsbereich zu übernehmen und zu behalten.

OL Adrian