Nicht besser, nur anders

Gedanken von OTL Tobias
Aust, Kommandeur des AufklBtl 6 „Holstein“ seit 2018, zur Identitätssuche und Traditionsstiftung anlässlich der bevorstehenden  Umbenennung der Rettberg-Kaserne in Oberst-Herrmann-Kaserne.

Die Nachricht traf uns Eutiner Aufklärer im Mai 2019 unvermittelt. Nach jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnissen hat der bisherige Namensgeber der Eutiner Kaserne – Oberst Karl von Rettberg – in seiner Zeit als Regimentskommandeur während des deutschen Einmarsches in Belgien zu Beginn des Ersten Weltkrieges im August 1914 nachweisbar Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen. Die wissenschaftliche Bewertung der Rolle Rettbergs fällt im Ergebnis so aus, dass sie dem Traditionsverständnis der Bundeswehr nicht entspricht. ¹
Die daraus resultierende Diskussion um eine Kasernenumbenennung wurde am Standort von Anfang an als Chance begriffen, die eigene Bataillonsgeschichte und -identität zum zentralen Bezugspunkt aller Betrachtungen zu machen. Das Aufklärungsbataillon 6 „Holstein“ wurde 1958 aufgestellt und ist seit 1961 in Eutin stationiert. In der 1913 bis 1915 erbauten Kaserne ist das Bataillon somit der mit Abstand am längsten stationierte Truppenteil. Garnisonsgeschichte in Eutin ist somit zuvorderst die Geschichte des Bataillons und damit eine Bundeswehrgeschichte. Auch aus dieser Perspektive hat sich die bisherige Namensgebung überlebt, die 1938 vorgenommen worden ist, 1961 ohne weitere Reflexionen einfach übernommen wurde und mit der die Masse unserer Soldaten schon seit längerem wenig assoziieren kann. Die Kaserne hieß so, weil sie schon immer so hieß.


Wertebindung und Identitätsstiftung
In der internen Diskussion um einen neuen identitätsstiftenden Namen kristallisierten sich schnell zwei Grundüberlegungen heraus. Erstens, muss ein neuer Name Bindung an Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit widerspiegeln. Soldaten des Bataillons stehen seit 63 Jahren bereit zur Verteidigung des demokratischen Nachkriegsdeutschlands und seiner Verbündeten in Europa sowie der NATO und dienen seit über 20 Jahren in weltweiten Auslandseinsätzen deutschen Sicherheitsinteressen. Sie haben dabei keinen Zweifel daran gelassen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung tapfer zu verteidigen – mit der Waffe in der Hand bis hin zum Einsatz des eigenen Lebens. Die Werte des Grundgesetzes sind somit unsere Werte und damit auch der Rahmen für unser Traditionsverständnis. Zweitens, muss ein neuer Name aber auch das Traditionsverständnis von Streitkräften widerspiegeln. Und deren Wesenskern wird durch soldatische Tugenden wie Tapferkeit, Pflichterfüllung, Entschlussfreude und Kameradschaft, aber auch vor allem der Tatsache geprägt, dass wir uns als Soldaten in der Truppe primär über das Kämpfen definieren. In diesem Verständnis muss Tradition in der Bundeswehr ebenso eine glaubwürdige und damit greifbare Identität für die Soldaten der „kämpfenden Truppe“ schaffen können. Es muss also bei der Suche nach einer werteorientierten und verantwortungsvollen Traditionspflege auch darum gehen, das Spezifische des Militärischen – das Sui Generis des Soldatenberufs – klar zu benennen.

Namen stiften Identität
Aus diesen Grundüberlegungen wurde ein geographischer Name in der Diskussion von vorneherein verworfen. So gibt beispielsweise eine „Holstein-Kaserne“ wenig Orientierung, weder historisch, noch als Identität. Namen und die dahinterstehenden Persönlichkeiten hingegen prägen, schaffen Assoziationen und im besten Fall Tradition. Beeindruckende Persönlichkeiten hat es in der Geschichte „von Sechs“ in allen Dienstgradgruppen gegeben. Ein prägnantes Beispiel ist Stabsfeldwebel Hubertus Hilgendorff. Dieser war ein legendärer Ausbilder zu Zeiten der damaligen Boeselagerwettbewerbe. 2001 verunglückte Stabsfeldwebel Hilgendorff tödlich. Zu seinem Gedenken wurde der jährliche Führervergleichswettkampf des Bataillons nach ihm benannt – übrigens der einzige Wettbewerb in der Bundeswehr, der den Namen eines Unteroffiziers trägt. In der Diskussion stellten sich zudem insbesondere die mittlerweile über 25 Auslandseinsätze des Bataillons seit 1997 als äußerst identitätsstiftend dar. Vor allem in Afghanistan bewährten sich Soldaten des Bataillons mehrfach unter Feuer im Gefecht. Es gab Verwundungen, jedoch gottseidank keine Gefallenen. Gleichwohl lässt sich aus dieser für das Bataillon prägenden Phase keine alles überragende Identifikationsfigur herauskristallisieren.

Oberst Herrmann: Gründungsvater – Vorbild – Identifikations- und Integrationsfigur
Diese lässt sich vielmehr in den Gründungsjahren des Bataillons finden. Es ist Oberst Werner Herrmann – im Dienstgrad Major von 1958 bis 1962 erster Kommandeur des Panzeraufklärungsbataillon 6. Seine Biographie ist ein Spiegel deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert. Werner Herrmann wurde 1917 in Dornstadt geboren. Eingetreten 1936 als Reserveoffizieranwärter in das Kavallerieregiment 13 in Lüneburg, nahm Herrmann am Zweiten Weltkrieg teil. Als Schwadrons-Chef erlitt er 1942 an der Ostfront eine schwere Verwundung, in deren Folge er ein Bein verlor. Das Ende des Krieges erlebte Herrmann als Inspektionschef und Taktiklehrer im Range eines Rittmeisters. Nach der Entlassung aus britischer  Kriegsgefangenschaft, war Herrmann als Kaufmann in Ostholstein tätig. Im Mai 1956 trat Herrmann als Major seinen Dienst in der Bundeswehr an und wurde anfangs als S3-Stabsoffizier im Panzeraufklärungsbataillon 3 eingesetzt, aus dem 1958 das Panzeraufklärungsbataillon 6 hervorging. Nach seiner Zeit als Eutiner Kommandeur wurde Herrmann als Inspektionschef an der Panzertruppenschule eingesetzt. In seiner letzten Verwendung als stellvertretender Kommandeur des Heimatschutzkommandos 15 in Wuppertal wurde Herrmann zum Oberst befördert und schied 1977 aus der Bundeswehr aus. Nach seiner Pensionierung lebte Oberst Herrmann in Eutin, wo er 2002 auch verstarb.
Drei wesentliche Aspekte lassen Oberst Herrmann zur zentralen Identifikationsfigur der Eutiner Aufklärer werden. Oberst Herrmanns Wirken als erster Kommandeur prägt nach über 60 Jahren des Bestehens den Verband bis heute. Als „Gründungsvater“ hat Oberst Herrmann das Bataillon mit einer kavalleristischen „Can-Do-Mentalität“ versehen, die als moderne Fortführung des Reitergeistes bis heute nachwirkt. Das Ergebnis ist ein gewachsener Korpsgeist, der sich über alle Dienstgradgruppen erstreckt und insbesondere angesichts der stark diversifizierten Struktur heutiger Aufklärungsbataillone zutiefst integrierend wirkt. Ein Ausspruch von Oberst Herrmann während seiner Kommandeurzeit in Eutin fasst diese Haltung aus Leistungsbereitschaft sowie gebotener Bescheidenheit prägnant zusammen und ist zum Leitspruch des Bataillons avanciert: „Kinders, wir sind nicht besser als die Anderen, wir sind nur anders!“ Dieses Motto und die dahinterstehende Grundhaltung begleitet uns überall hin – sei es hier in Deutschland oder in die Auslandseinsätze des Bataillons auf dem Balkan, nach Afghanistan, Mali oder jüngst Irak.
Oberst Herrmanns herausragende Leistungen in der Aufbauzeit der Bundeswehr als militärischer Führer und oberster Ausbilder seines Bataillons machen ihn zum Vorbild. Aus kleinen Anfängen formte er in knapp vier Jahren durch Tatkraft, Improvisationstalent und Einfallsreichtum einen einsatzbereiten und schlagkräftigen Verband. Diese Vorbildfunktion erstreckt sich jedoch nicht nur auf das Offizierkorps, sondern gilt explizit auch auf die Unteroffiziere des Verbandes, deren Ausbildung und Erziehung Oberst Herrmanns besonderes Augenmerk galt. Seine hohe Einsatzbereitschaft sowie Führen von vorn und mit Beispiel trotz schwerer Kriegsverwundung gilt bis heute im Bataillon als beispielhaft. Unbestritten war Oberst Herrmann als „Vollblutoffizier“ 2 ein fordernder Vorgesetzter. Seine besondere Fürsorge und seine Menschlichkeit galt jedoch in besonderem Maße allen Soldaten des Bataillons, weshalb er nicht nur eine Identifikations-, sondern vor allem auch eine Integrationsfigur ist. Oberst Herrmann verkörpert somit zeitlose soldatische Tugenden, die ihren richtungsweisenden Vorbildcharakter auch für die heutigen und zukünftigen Soldaten des Bataillons entfalten – sei es im hochintensiven Gefecht oder im Einsatz.
Oberst Herrmanns weiterer zentraler Verdienst ist die tiefe
Integration der Bundeswehr in ihr regionales Umfeld. Dies war seine Erkenntnis aus der traumatischen Erfahrung des Nationalsozialismus und eigenen Kriegsbiographie: Eine Armee in der Demokratie bedarf der Akzeptanz der Bevölkerung und daher umfassenden Integration in ihr gesellschaftliches Umfeld.

In der Folge betrieb Oberst Herrmann als Kommandeur noch vor der Verlegung des Verbandes eine äußerst intensive Öffentlichkeitsarbeit – so bereits 1959 mit einem „Tag der offenen Tür“. Eindrucksvoll auch der Einzug des Bataillons 1961 in die neue Garnison: Mit Feldparade, Platzkonzert und Großen Zapfenstreich. Insgesamt ist es Oberst Herrmann gelungen, durch den von ihm energisch vorangetriebenen Austausch mit Kommunalpolitik, Wirtschaft sowie gesellschaftlichen Institutionen den Grundstein für die bis heute andauernde feste Verwurzelung in die Region zu legen. Der ihm entgegengebrachte Respekt für diese Integrationsleistung und sein unermüdliches Wirken für das Bataillon weit über seine Pensionierung hinaus drücken sich nicht zuletzt im zwanzigjährigen Vorsitz der „Kameradschaft Panzeraufklärungsbataillon 6“ bis ins hohe Alter aus. Diese hatte er als Brücke zwischen Alt und Jung 1978 selbst gegründet und existiert mit der ebenfalls auf ihn zurückgehenden Bataillonszeitschrift „Der Aufklärer“ von 1962 bis heute.
Oberst Herrmann war Weltkriegsteilnehmer der Wehrmacht. Er tat mit großer Tapferkeit seine soldatische Pflicht, zahlte mit dem Verlust eines Beines einen hohen persönlichen Preis und diente am Ende doch einer grundfalschen Sache. Damit war Herrmann als junger Offizier ein typischer Vertreter seiner Generation wie ein Helmut Schmidt, Richard von Weizäcker oder Wolf Graf von Baudissin. Hier greift jedoch das Menschenbild unseres Grundgesetzes, das den Menschen in den Mittelpunkt aller seiner Betrachtungen stellt und eben nicht das Prinzip der Kollektivschuld kennt, sondern von individueller Verantwortlichkeit ausgeht. Hierzu zählt die schonungslose Einsicht, einem Unrechtsregime gedient zu haben auch wenn man – wie Oberst Herrmann – sich nicht persönlich schuldig gemacht hat 3 .

Schlussbetrachtungen – Prägung durch Kampf
Und damit wird auch deutlich, worum es bei Umbenennung keinesfalls gehen darf: um eine „unreflektierte Verehrung ferner
Helden“, sondern um die Auseinandersetzung mit einer
nahbaren Persönlichkeit mit ihren Stärken und Schwächen, ihren Brüchen und Verdiensten, ihren Zäsuren und Neuanfängen. Oberst Herrmanns Biographie und Werdegang mit historisch bedingten Höhen und Tiefen ermöglicht diese Auseinandersetzung. Die Bundeswehr steht seit über 65 Jahren für eine wehrhafte Demokratie, ihre Soldaten stehen für deren Werte loyal ein – auch im Gefecht unter Feuer. Dies ist der langfristige Verdienst der Aufbaugeneration der Bundeswehr, die in Eutin durch Oberst Herrmann verkörpert wird. Gleichzeitig soll die Benennung nach Oberst Herrmann aber auch ein Signal sein, in der Traditionspflege der Bundeswehr nicht nur den Weg der „größtmöglichen Unverbindlichkeit“ zu suchen. Die Bundeswehr verfügt nach 65 Jahren über eine eigene Geschichte und trotz offensichtlicher, aktueller struktureller Probleme im „Gesamtsystem Bundeswehr“ vor allem in den Verbänden und Einheiten über eine Tradition, zu der selbstbewusst und – wenn auf Leistung beruhend – durchaus auch mit Stolz gestanden werden kann. Hierbei ist allerdings das Militärische klar zu benennen. Dies gilt als Form der Aufrichtigkeit gegenüber einer Gesellschaft, der das Militärische mittlerweile weitgehend, wenn nicht gar vollkommen fremd ist. Die Truppe will sich mit ihrem Alltag in der Traditionspflege wiedererkennen können. Und dieses Selbstbild ist speziell auf der Kompanie- und Bataillonsebene immer noch – und wird es aus Eutiner Sicht auch bleiben – geprägt vom Kampf4. Traditionspflege, die dies verkennt, umdeutet oder gar abstreitet, wirkt zumindest mit Blick auf die Truppe fremd, mitunter seelenlos und im schlimmsten Fall unglaubwürdig. Wo aber Orientierung fehlt, treten andere Leit- und Vorbilder an ihre Stelle.
Oberst Herrmann gibt uns Eutiner Aufklärern diese Orientierung. Als erster Kommandeur des Bataillons stiftet er mit den von ihm verkörperten soldatischen Werten der Truppe vor Ort größtmögliche Identifikation. In einer Truppengattung großer historischer Persönlichkeiten wie Zieten, Seydlitz, Boeselager oder Stauffenberg – Vorbilder, denen auch wir uns verpflichtet fühlen – ist die Benennung nach Oberst Herrmann sicherlich ein eher regionaler Ansatz. Insofern ist die erste Benennung einer Kaserne nach einem Panzeraufklärungsoffizier der Bundeswehr für uns als Eutiner Aufklärer frei nach dem von Oberst Herrmann geprägten Credo vor allem eines: „Nicht besser – nur anders!“ – und demnach sehr treffend.

OTL Aust

Ein gleichlautender Artikel wird im Heft „Der Panzerspähtrupp“ Nr. 67 des Freundeskreises der Heeresaufklärer veröffentlicht

¹ Vgl. Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr: Gutachten über die Rolle Oberst Karl von Rettberg im Ersten Weltkrieg, Potsdam 2018.
² So Generalleutnant a.D. Kather und ebenfalls ehemaliger Kommandeur Panzeraufklärungsbataillon 6 zum Tode Oberst Herrmanns am 17. Januar 2002 im Alter von 84 Jahren. General Kather verfasste hierzu einen Nachruf in der Bataillonszeitung „Der Aufklärer“. U.a. schrieb General Kather, der Oberst Herrmann seit seiner Zugführerzeit in Eutin kannte: „Oberst Herrmann gehörte zu den beeindruckendsten Persönlichkeiten, die ich in meinem Leben kennenlernen durfte und von deren
Erfahrungen und Können ich profitieren konnte. Er war und ist einer meiner großen Vorbilder und er wird es bleiben.“ Vgl. DER AUFKLÄRER. Mitteilungsblatt Kameradschaft Panzeraufklärungsbataillon 6, Eutin Juni 2002, S. 20f.
³ Im Rahmen des Findungsprozesses wurde auch durch das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam eine historische Stellungnahme erstellt, die sich umfassend und sehr differenziert mit Herrmanns Herkunft und Jugend sowie mit seinem Wirken als junger Offizier in der Wehrmacht, als Stabsoffizier in der Bundeswehr und schließlich als Pensionär auseinandersetzt. Dazu wurden intensiv Quellen aus dem Bataillon, aber insbesondere auch dem aus Bundes-Militärarchiv in Freiburg gesichtet. Das Gutachten kommt zu der abschließenden Wertung, dass „Werner Herrmann als eine verdienstvolle, herausragende und vor allem lokal bedeutende Persönlichkeit der Aufbaugeneration der Bundeswehr“ erscheint. Vgl. Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr: Historische Stellungnahme zu Oberst Werner Herrmann (1917-2002), Potsdam im Oktober 2019.
4 Vergleiche hierzu auch die interessanten Ausführungen des
Potsdamer Militärhistorikers Sönke Neitzel. Neizel, Sönke: Deutsche
Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte, Berlin 2020, S. 580-582.